Kleine Gruppe, große Wirkung

Spannender und nachdenklich stimmender Theaterabend mit J. B. Priestleys „Ein Inspektor kommt“

Der zeitlose Kerngedanke, den das 1945 uraufgeführte Stück vermittelt, lässt sich so zusammenfassen: Wir sollten uns stets bewusst machen, dass unser Tun einem anderen schaden kann, und unser Handeln danach ausrichten, dass das möglichst selten passiert. Die Bedeutung dieser Maxime ist der Familie Birling am Anfang des Stücks fremd, sodass ein Inspektor – beeindruckend kühl und geradlinig gespielt von Leni Flöter – ihnen nacheinander vor Augen führen muss, wie die Summe ihrer egoistischen, zornigen und unüberlegten Entscheidungen eine junge Frau namens Eva Smith in den Selbstmord getrieben hat.

Im Fokus steht dabei zunächst das Familienoberhaupt Arthur Birling, das Eva wegen einer Teilnahme an einem Arbeiterstreik feuerte. Kaya Lorenz zeigt in dieser Rolle eine große Souveränität und ein nicht geringes komisches Talent auf der Bühne. Gerald Croft, der sich soeben mit Arthurs Tochter Sheila verlobt hat, wird ebenfalls einer Prüfung durch den Inspektor unterzogen. Er muss zugeben, dass er mit Eva eine Affäre hatte. Sobald er erkennt, was seine Taten bewirkt haben, stellt er ehrlich fest, dass er „berührter von der Sache“ ist, als er erwartet hätte. Dargestellt wird dieser Charakter von Eva Ringer, der es sehr gut gelingt, die Emotionen der Figur glaubwürdig zu transportieren.

Doch auch Arthurs Frau Sybil – überzeugend als unnahbare und selbstbewusste Herrin des Hauses verkörpert von Lea Borawski – und seine Kinder Sheila und Eric haben einen Anteil am Freitod der Eva Smith. Sybil, weil sie dafür gesorgt hat, dass die schwangere Eva keine Unterstützung von der von ihr eingerichteten Wohltätigkeitsorganisation erhielt. Sheila, weil sie dazu beigetragen hat, dass Eva eine weitere Anstellung verlor. Eric, weil er derjenige ist, der Eva geschwängert hat.

Die beiden letztgenannten Figuren gelangen im Gegensatz zu ihren Eltern am Ende des Stücks jedoch zu einer Einsicht und empfinden Schuld und Verantwortung für ihr Tun. Arthur und Sybil versuchen dagegen weiterhin, das Geschehene zu relativieren oder davon abzulenken. In der Rolle von Eric Birling überzeugt Ciara Pflaum, die den jungen Mann zunächst leichtfertig und später an der Situation und den uneinsichtigen Eltern verzweifelnd darstellt. Jasmin Schönberger, jüngstes Mitglied der Theatergruppe, spielt Sheila Birling so gut, dass man sich mit Arthurs Worten hin und wieder fragt: „Was ist denn los mit diesem Kind?!“

Das Bühnenbild orientierte sich mit wenigen Akzenten wie Portweingläsern und Ohrensessel im Salon der Familie Birling angenehm nah an der ursprünglichen Kulisse des Dramas. Dasselbe gilt für die Kostümierung, die die Damen im Kleid, die Herren im Anzug, den jungen Eric Birling mit Hosenträgern und den Inspektor im Trenchcoat zeigte.

Das Ensemble, obwohl überwiegend noch ohne bisherige Bühnenerfahrung, spielte textsicher und durchweg ausdrucksstark. Das Lob schließt Lena Gimpl ausdrücklich mit ein, die in Corona-Zeiten kurzfristig für Kimberly Reuter in der Rolle des Hausmädchens Edna einsprang. Auf äußerst charmante Weise lud sie das Publikum ein, sich in der Pause im 2. Akt an Getränken und Snacks zu erfrischen.

J. B. Priestleys „Ein Inspektor kommt“ ist ein ernstes und zeitloses Stück, das nicht nur das Thema Verantwortung in den Mittelpunkt rückt, sondern die Verantwortung für eine gelungene Inszenierung auf nur wenige Schultern, nämlich auf nur sieben Rollen verteilt. Die sieben Schauspielerinnen der Dr.-Johanna-Decker-Schulen unter der Leitung von Florian Hackl und Peter Ringeisen haben diese Herausforderung bravourös gemeistert. Mit ihrer Aufführung forderten sie zudem das Publikum heraus, über die Themen Verantwortung und menschliches Miteinander auch nach dem Verklingen des Beifalls und dem Verlassen des Saals nachzudenken. Als kleine Gruppe erzielten sie somit eine große Wirkung.

Simone Nimmerrichter (Schulspielleiterin am Max-Reger-Gymnasium)

Fotos: djds